Wolfgang Raichle Foto: Archiv Foto: Schwarzwälder-Bote

Kräuterkasten: Wolfgang Raichle und Susanne Stierle boten Lyrik und Musik

Einen Über- und Rückblick auf sechs Jahrzehnte des musikalischen und literarischen Schaffens hat Wolfgang Raichle mit Mezzosopranistin Susanne Stierle im Kräuterkasten gegeben.

Albstadt-Ebingen. Zu Beginn schilderte der heute 73-jährige Raichle seinen Werdegang vom Oberschüler zum studierten Musiker und Germanisten. Er erzählte, welche Komponisten ihn beeinflusst, welche Dichter ihn besonders angesprochen haben und warum er welches Gedicht vertont hat – immer lächelnd und leicht selbstironisch, besonders, wenn es um erste eigene Versuche und kreative Fingerübungen ging.

En passant gab er dabei eine Fülle von Informationen, etwa über atonale Musik und Dadaismus, erläuterte, wie er das existenzialistische Credo "jeder ist allein" in Tönen ausdrückt und mit musikalischen Mitteln einen Stein oder eine etruskischer Vase beschreibt. Jedem Stück, das er spielte, fügte er eine Erklärung bei, und daran tat er gut, denn es war keine leichte Kost, was Raichle und Stierle da boten, alles andere als ein akustisches Plätschern.

In Susanne Stierle, einst seine Schülerin am Gymnasium Ebingen, hat Raichle eine kongeniale Partnerin gefunden. Herb klingt ihr Mittelhochdeutsch in Walther von der Vogelweides "Frühlingssehnsucht", lieblich mutet der "Gruß" von Heinrich Heine an. Die "Wolken" von Hermann Hesse lassen die beiden ruhig über sich hinwegziehen; tief und dunkel beginnt die Melodie von "Ich hört ein Sichelin rauschen" und steigt dann über unruhiger Begleitung auf – den Schlusspunkt setzt ein Aufschrei der Sängerin. Wie gut die beiden aufeinander abgestimmt sind, zeigt sich im "Marienlied" von Novalis. Wolfgang Raichle hat daraus ein Trio für Singstimme und zwei Hände am Klavier gemacht – jede Stimme führt ihr Eigenleben, und doch passt alles zusammen.

Aber bei allem Ernst – auch Spaß muss sein bei Wolfgang Raichle. Seine Musik zwinkert schelmisch, wenn Morgensterns Rehlein beten, und wenn Susanne Stierle das Henkersmädel um einen Kuss anfleht, dann klopft Beethoven parodistisch schicksalsschwer an die Pforte. Ratsherren klagen wie beim "lieben Augustin", Schweine grunzen auf den Tasten, und "Fisches Nachtgesang" bereitet besonderes Vergnügen – es müssen Forellen sein, die da zu Bachs Präludium das Ave Maria anstimmen. Tonlos natürlich, doch von Susanne Stierles Lippen, Blicken, Gestik kann man den Text fast ablesen. Und sie achtet gut darauf, an der richtigen Stelle ihr Notenblatt umzuwenden.

Ein Höhepunkt: die "Selbstverwaltungsarie" aus der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, eine wunderbare Parodie mit allem, was zur Opernarie gehört: Koloraturen, endlose Textwiederholungen, fast lyrische Intermezzi, dann wieder Dramatik – Susanne Stierle hätte das Zeug zur Operndiva. Raichles Liebe zur Moderne spricht aus seinen Klavierstücken; allerdings verarbeitet diese Moderne hergebrachte Formen, etwa die der Fuge. Nicht zu vergessen: seine Gedichte, die menschliche Schwächen aufs Korn nehmen und gekonnt in Morgensternscher Manier mit Worten spielen, etwa wenn ein Fuß seinen Vers sucht. Das Resümee: ein besonderer Abend, der Erkenntnis, Ernst und Witz auf ungemein stimmige Weise verband.