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Am Dienstag, dem achten NSU-Verhandlungstag, sprudelt es vor dem Münchener Oberlandesgericht aus Carsten S. heraus. Aus dem Mann, dem Deutschlands oberste Ankläger vorwerfen, Beihilfe zu neun der zehn Morde geleistet zu haben.

München - Carsten S. ist in sich zusammengesunken. Die Arme hängen neben dem Körper. Er starrt auf den Tisch. Als er den Kopf hebt, schaut er in die gefärbten Haare von Beate Zschäpe, die vor ihm sitzt. „Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich reinen Tisch machen möchte“, sagt Carsten S. (33). Der Neonazi-Aussteiger hat jahrelang verdrängt, dass er drei Untergetauchten eine Pistole mit Schalldämpfer besorgt hat. Die Ankläger sind sich sicher sicher, dass dies eine tschechische Pistole der Marke Ceska Zbrojovka 83 im Kaliber 7,65 mm Browning mit Schalldämpfer war. Ein Waffe, die auf verschlungenen Wegen in die Hände des Nationalsozialistischen Untergrunds gelangt sein soll.

Am Dienstag, dem achten NSU-Verhandlungstag, sprudelt es vor dem Münchener Oberlandesgericht aus Carsten S. heraus. Aus dem Mann, dem Deutschlands oberste Ankläger vorwerfen, Beihilfe zu neun der zehn Morde geleistet zu haben, die der rechten Terrorgruppe NSU zur Last gelegt werden. Um die allerdings geht es erst einmal gar nicht, sondern um ihn selbst. Um Carsten S., den Teenager, der sich zu Männern hingezogen fühlt. „Ich war wohl auch ein wenig verschossen in ihn“, ist einer der Sätze, die er oft sagt. Über den Rechten aus der Parallelklasse, mit dem er rumhangen ist und über den Rechten, dem er bei einem Musikfestival die Haare rasierte. „Das hat mir Spaß gemacht“, ist der andere Satz, den er wieder und wieder sagt: Spaß gemacht hat ihm das Auftreten in der Gruppe, Fensterscheiben kaputt schlagen und das Rechtssein.

Carsten S. bricht in Tränen aus

Während Zschäpe regungslos starrt und sich den Zuhörern, eingelullt von den diffusen Erzählungen, das Bild eines verunsicherten jungen Mannes auf der Suche nach Orientierung ergibt, kommt der auf den NSU zu sprechen: Wie er die Pistole mit dem Schalldämpfer besorgt hat und sich mit Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos in Chemnitz getroffen hat. Unvermittelt bricht er da in Tränen aus, schluchzt, spricht hoch und schnell.

Carsten S. berichtet, er habe Ende 1999 oder Anfang 2000 eine Waffe an Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos übergeben, mit der diese später neun Menschen töteten. Bei dieser Übergabe in einem Café in der Galeria Kaufhof in Chemnitz hätte das Uwe-Duo angedeutet, dass sie Gewalttaten planen. Sie hätten ihm gesagt, dass sie „eine Taschenlampe in einen Laden in Nürnberg gestellt“ hätten. Er habe zunächst nicht geahnt, was die beiden damit meinten.

Als Beate Zschäpe in die Runde gekommen sei, hätten die beiden Männer ihn aufgefordert, zu schweigen: „Dann kam Frau Zschäpe und sie sagten 'psst', damit Frau Zschäpe das nicht mitbekommt..“ Erst am Abend nach der Waffenübergabe sei ihm der Gedanke gekommen, dass Böhnhardt und Mundlos mit ihrer „Taschenlampen“-Andeutung womöglich einen Anschlag meinten. Mit dieser Aussage hat Carsten S. möglicherweise auf eine zusätzliche Straftat des NSU hingewiesen, aber die Hauptangeklagte Zschäpe überraschend entlastet. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass sie in alle gewaltsamen Aktivitäten des NSU eingebunden war. Zschäpe will sich nicht zu den Vorwürfen äußern.

Ungereimtheiten in der Aussage

Eine Ungereimtheit gibt es in der Aussage von Carsten S. Der behauptet, er habe sich in einem Café in der Galeria Kaufhof in Chemnitz mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos Ende 1999 oder Anfang 2000 getroffen. Die Galeria Kaufhof am Chemnitzer Rathaus 1 wurde jedoch erst am 18. Oktober 2001 eröffnet.

Am 1. Februar vergangenen Jahres hatte die Bundesanwaltschaft in ihrer Pressemitteilung 3/2012 geschrieben, Carsten S. sei „dringend verdächtig, gemeinsam mit dem gesondert verfolgten Ralf W. dem ‚NSU‘ 2001 oder 2002 eine Schusswaffe nebst Munition verschafft zu haben. Er soll Waffe und Munition in Jena gekauft und anschließend an Ralf W. weitergegeben haben, der einen Kurier mit dem Transport zu den „NSU“-Mitgliedern nach Zwickau betraut haben soll.“ Zudem warfen ihm die Staatsanwälte vor, „Beihilfe zu sechs vollendeten Morden und einem versuchten Mord der terroristischen Vereinigung ‚Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)‘ geleistet zu haben“. Inzwischen sind daraus neun Morde geworden.

Von einem versuchten Sprengstoffanschlag in Nürnberg vor 13 Jahren ist bislang nichts bekannt. Die Bundesanwälte werfen in ihrer Anklageschrift dem NSU vor, am 9. September 2000 in Nürnberg Enver Simsek, am 13. Juni 2001 Abdurrahim Özüdogru und am 9. Juni 2005 Ismail Yasar erschossen zu haben. Bis zu dem Mord an Simsek hatte der NSU nach Erkenntnissen der Fahnder einen Supermarkt und zwei Postbankfilialen in Chemnitz überfallen.

Carsten S. hat sich vor Jahren von der rechten Szene gelöst

Von seiner Vermutung eines Anschlages habe Carsten S. allerdings niemanden etwas erzählt - auch bei seinen Vernehmungen durch das Bundeskriminalamt (BKA) nicht. Erst jetzt habe er sich entschlossen aufzuräumen. „Das habe ich niemandem gesagt, das hab ich ganz schnell wieder weggetan“, sagte er. Richter Manfred Götzel hakte nach, was es mit der Taschenlampe auf sich gehabt habe. Der Angeklagte sagte: „Es gab vermutlich früher einen versuchten Anschlag, den ich aber weggeschoben habe.“

Der 33-Jährige Carsten S., der sich vor Jahren von der rechten Szene gelöst hatte, um seine Homosexualität offen leben zu können, sagte bereits an zwei Prozesstagen in der vergangenen Woche aus. Auf Fragen des Richters antwortete er damals aber immer wieder: "Ich erinnere mich nicht." Seine Vernehmung war schließlich auf Wunsch seiner Verteidiger unterbrochen worden, weil der für ihn zuständige psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf nicht anwesend war. An diesem Dienstag ist der Sachverständige wieder im Gericht.

Am Vormittag hatte die Bundesanwaltschaft mitgeteilt, dass insgesamt rund 500 Menschen überprüft worden seien, die dem Umfeld des NSU angehören könnten. Die Anklagebehörde hatte den Prozessbeteiligten zunächst aber nur eine Liste von 129 Personen vorgelegt. Es handele sich bei den neuen Akten um sogenannte Spurenakten, die für das Verfahren „null Bedeutung" hätten, sagte Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Akten könnten jedoch bei der Bundesanwaltschaft eingesehen werden.

Jasmin Mender ist Redakteurin der Münchener Abendzeitung