Unser Fotograf Leif Piechowski war auf der Rastanlage Im Hegau an der A 81 kurz vor Singen unterwegs – was er ort durch seinen Sucher entdeckt hat, sehen Sie in unserer Bildergalerie. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Am Rande der Autobahn trifft man nicht nur die mobile Gesellschaft, sondern vor allem sich selbst. Ein Tag und eine Nacht auf einem Rastplatz.

Stuttgart/Singen - Ob der Ethnologe Marc Augé manchmal an einer Raststätte haltmacht, um vielleicht ein Cordon bleu zu essen oder sich in der antiseptischen Welt der Sanifair-Toiletten zu erleichtern, ist nicht bekannt. Zumindest aber hat Augé (*1935) eine Art philosophischen Überbau für diese Anlagen geschaffen: Raststätten sind für Augé, ebenso wie Flughäfen, Bahnhöfe, Hotels oder Shopping-Center, Nicht-Orte. Sie sind die Durchgangsräume einer immer mobileren Gesellschaft, in denen sich Menschen zwar treffen, aber nicht begegnen, die somit weder identitäts- noch beziehungsstiftend sind. Solche geschichtslosen Nicht-Orte seien typisch für die „Übermoderne“, schreibt Marc Augé in den Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit.

So weit die Theorie.

In der Praxis steht die immer mobilere Gesellschaft dann erst mal im Stau. Drei statt der vom Navi versprochenen eineinhalb Stunden dauert die Fahrt von Stuttgart über die A 8 und die A 81. Durch Baustellen, einen Hagelsturm, noch mehr Baustellen, Regen, Stau ohne erkennbaren Grund, zur Rastanlage Im Hegau Ost.

Dort dann: Wohltuende Weite – der Rest der immer mobileren Gesellschaft ist an diesem Abend unter der Woche offenbar schon zu Hause. Der Eingangsbereich mit dem Kiosk ist fast leer. Neben der Kaffeebar blinken einsam drei Spielautomaten, und im Restaurantbereich warten Köche mit hohen Mützen hinter ihren Edelstahltheken. Die wenigen Gäste bringen die Inneneinrichtung gut zur Geltung. Dunkelbraune Tische, grauer Teppich, milchigweise Deckenlampen, die wie platt gedrückte Eier aussehen – ein zurückhaltender Raum irgendwo zwischen 2004, seinem Eröffnungsjahr, und der Übermoderne.

Ein Mann in weißem Hemd und mit blond-gelbem Toupet hat sich für das Tagesgericht entschieden (Königsberger Klopse für 9,90 Euro), ein paar Tische weiter löffeln zwei Klosterfrauen aus Ludwigsburg, die zuvor auf dem Frauenparkplatz haltgemacht hatten, bunte Eisbecher. Dann kommt noch ein Paar (beide das lange graue Haar zum Zopf gebunden) und wählt die vegetarischen Bandnudeln mit Gemüse.

Rastanlage ist ein Nicht-Ort mal zwei

Die Raststätte Im Hegau kurz vor Singen ist eine von rund 430 in Deutschland. Das Unternehmen Tank und Rast, sozusagen der Rastplatzhirsch, betreibt 390 von ihnen – der Rest ist privat geführt. Im Hegau, das aus einem Ost-Teil (Richtung Stuttgart) und einem West-Teil (Richtung Singen) besteht, gehört der Familie Riemensperger. Die Juniorchefin will am nächsten Morgen über das Gelände führen. Zuvor aber wird man im angeschlossenen Hotel übernachten. Folgt man der Theorie Marc Augés, ist ein Hotel an einer Rastanlage ein Nicht-Ort mal zwei, sozusagen ein Bett im Nirgendwo – in diesem Fall allerdings in einem überraschend einladenden und sauberen Nirgendwo mit hellbraunen Möbeln und Vorhängen mit Streifen in Lindgrün und gedecktem Orange.

Es sind vor allem Geschäftsreisende, die die 60 Betten des Hotels buchen und deren blank geputzte Kombis hinter dem Gebäude parken. Ein Vertreter für Medizintechnik aus Berlin. Zwei Mittzwanziger, die im Auftrag einer Gelsenkirchener Werbeagentur die Bodensee-Filialen von Media-Markt umgestalten. Ein Monteur für Fertigungsstraßen in der Automobilindustrie.

Während die zwei jungen Leute auf die Knöpfe der Spielautomaten hämmern, gönnen sich die Männer mittleren Alters auf der Terrasse vor dem Restaurant ein Feierabendbier. Jeder an seinem Tisch, gucken sie auf das geometrische Muster des Parkplatzes. Oder auf das Kunstwerk, das sich in der Mitte des Geländes erhebt und ein bisschen aussieht wie ein vergoldeter Hundehaufen. Eigentlich stellt es eine Bergspitze des vulkanisch geprägten Hegau dar.

Kein Platz für intensive Begegnungen

„Früher habe ich meist im Auto übernachtet“, sagt einer der Männer, er ist Servicetechniker für ergonomische Bürostühle. „Das Geld, das mein Arbeitgeber für Übernachtungen zahlt, habe ich mir gespart. Das waren 400 bis 500 Euro mehr im Monat.“ Mittlerweile fühlt er sich dafür aber zu alt und gönnt sich ein Hotelzimmer. „Die Zeiten ändern sich eben“, sagt der Mann, und greift nach seinem Weizenbierglas, als wäre damit eben einfach alles gesagt.

Es ist schon ein bisschen so, wie es der Ethnologe Augé beschreibt: Am Rande der Autobahn ist zwar Zeit für ein abgepacktes Eis, eine Bifi oder Butterbrezel, aber kein Platz für intensive Begegnungen. Laut Umfragen bleibt jeder fünfte Gast nur zehn Minuten, der Rest maximal eine halbe Stunde. Nicht-Orte seien wie sich permanent verändernde Manuskriptseiten, schreibt Augé, auf denen „das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelung“ finde.

An der Rastanlage kann man also nicht nur den anderen beim rastlosen Ankommen und Aufbrechen zusehen, sondern vor allem sich selbst: Ist man wie die Frau am Kiosk, die dem quengelnden Kind erklärt, dass es jetzt weder das Feuerwehrbuch noch die Gummibärchen bekommt? War man nicht mal Teil der lärmenden Jugendreisegruppe, heimlich verliebt in den tollen Typ mit den verstrubbelten Haaren in der letzten Sitzreihe? Oder wird man mal der weibliche Teil des älteren Ehepaars in Treckingsandalen sein, auf dessen Autotür ein Aufkleber mit dem Schriftzug „Carpe diem“ pappt? Und taucht im großen Rückspiegel des Lkw nicht auch die eigene Ethnologie der Einsamkeit auf?

Die Nacht verläuft dann ruhig. Das Halbrund der Hotel-Fassade leitet den Schall der Autobahn nach hinten ab in ein Wäldchen, das ihn einfach verschluckt.

Mobile Gesellschaft ist schon früh unterwegs

Kurz vor dem Schlafengehen guckt man vom verglasten Gang aus noch einmal auf den Parkplatz. Auf einen Fahrer aus der Türkei, der sich auf einem Campingkocher ein spätes Abendessen brutzelt. Und auf einen abgekoppelten Anhänger mit der Aufschrift „Dreamland Ulm Gothic- und Mittelalterkleidung“. Darunter liegt eine kopflose Schaufensterpuppe. Sie wird später im Traum mit Marc Augé und einem ergonomischen Bürostuhl eine Rumba auf dem Rastplatz tanzen.

Am nächsten Morgen hat der Ausflug in die Ethnologie der Einsamkeit ein jähes Ende. Die mobile Gesellschaft ist schon früh unterwegs. Kinder quengeln im Kiosk, eine Busreisegruppe muss dringend aufs Klo, und am Nebentisch sitzen russische und asiatische Geschäftsleute zusammen. Vielleicht teilen sie gerade die Welt unter sich auf, jedenfalls ruft einer am Ende ihrer Besprechung „Now everybody is happy“ (Jetzt sind alle glücklich) – und es könnte keine bessere Überleitung zum Treffen mit der Juniorchefin geben.

Iris Brütsch (33), geborene Riemensperger, ist eine hoch gewachsene Frau mit strahlenden, freundlichen Augen und einem nicht zu sanften, aber auch nicht zu starken Händedruck. Für sie, das wird schnell klar, ist die Rastanlage kein melancholischer Nicht-Ort, auch kein Reflektionsraum, an dem sie über sich oder andere nachdenkt – außer es geht darum, wie sie ihre Kunden noch zufriedener machen kann. Für Iris Brütsch sind Im Hegau Ost und West eine Mischung aus Wohnzimmer und Lebensgrundlage.

Regionales in der Raststätten-Küche

Früh wusste die Tochter, dass sie – ebenso wie ihre drei Jahre ältere Schwester Anja Rösner – ins Geschäft der Eltern einsteigen will. Sie ist Hotelfachwirtin geworden, hat in Erste-Klasse-Häusern wie dem Vier-Jahreszeiten Erfahrungen gesammelt. Ihre Eltern Rolf und Elisabeth Riemensperger, die aus dem nahen Ort Engen stammen, haben Im Hegau West 1995 eröffnet, 2004 folgte dann der Ostteil, derzeit wird ein zweites Hotel gebaut. Heute führen Eltern und Töchter das Unternehmen mit 80 Mitarbeitern gemeinsam. Iris Brütsch – Mutter von zwei kleinen Kindern – arbeitet in der Verwaltung, aber übernimmt auch mal die Schicht bis zwei Uhr nachts an der Bar.

Die junge Chefin kann sehr enthusiastisch über diesen Ort und ihre Unternehmensphilosophie sprechen. Zum Beispiel darüber, warum sie in der Küche keine Fertigprodukte und vor allem Regionales sehen will. Über die Bedeutung von Sauberkeit und Freundlichkeit. Aber auch über die Stammgäste aus der Umgebung, die das Personal beim Namen kennt. Man merkt Iris Brütsch die Wut an, wenn sie von einem Überfall auf die Tankstelle vor ein paar Wochen erzählt („Das ist, als würde jemand bei mir zu Hause einbrechen“). Man glaubt ihr, wenn sie die Raststätte als demokratischen Ort preist („An unserer Theke ist jeder gleich, egal ob Chef, Politiker oder einfacher Arbeiter“). Und man kann sich gut vorstellen, wie die Frau mit ihrem Hund an der A 81 entlangspaziert, weil sie die Autobahn tatsächlich liebt, wie sie sagt.

Plötzlich bekommen die Menschen ein Gesicht

Wenn man mit Iris Brütsch durch die Rastanlage geht, dann bekommen die Menschen hinter den Theken und an den Tischen plötzlich ein Gesicht und einen Namen. Die Chefin grüßt lächelnd hier, delegiert bestimmt da, rückt ein Schild auf der Theke zurecht. Dann weist sie auf eine Nordic-Walking-Gruppe aus Engen hin, die sich hier zum Sektfrühstück verabredet hat, auf dieser der Autobahn abgewandten Terrasse des West-Teils, von der aus man bis zum Bodensee und den Alpen sehen kann. Keine Frage: Dieser Ort hat eine Geschichte und ein gutes Manuskript.

Zum Abschied drückt Iris Brütsch einem einen Plastikbehälter mit vegetarischer Pastasoße in die Hand, die die Köche auf ihren Wunsch neu ins Programm genommen haben. „Die essen Sie heute Abend und denken an uns“, sagt sie. Und man wünscht sich, Marc Augé könnte das jetzt sehen.